2016 kam der Film „Tschick“ in die Kinos. Clara möchte wissen, wie dieser Roman für die Leinwand bearbeitet wurde. Deshalb ist sie mit dem Regisseur Fatih Akin verabredet.
Clara erklärt zunächst, dass sie es sich schwierig vorstellt, diesen Roman zu verfilmen. Denn: Jeder Leser habe seine eigenen Bilder im Kopf. Wie ging Fatih mit dem Erwartungsdruck um?
Fatih erklärt, dass er bei der Arbeit nicht daran gedacht hat, wie er den Erwartungen anderer gerecht wird. Für ihn sei der erste Schritt gewesen, für sich selbst zu gucken: Was lese ich daraus, welche Bilder entstehen – und vor allem: Welche Gefühle entstehen in ihm.
Clara fragt, warum im Film einige Szenen fehlten, z. B. die Sprachtherapeutin oder die Hochsprungszene.
Fatih erläutert, dass er beim Lesen bemerkt hat, dass für ihn einige Szenen den Erzählfluss eines Films behindert hätten. Denn Film funktioniere visuell, die Geschichte wird durch Bilder erzählt. Im Film versucht man deshalb, Dialoge zu vermeiden. Dialoge sollten nicht zu sehr ausarten, meint Fatih. Dies sei zwar keine Regel, aber für ihn sei das wichtig. Die filmischen Mittel für ein langes Telefonat seien sehr beschränkt. Es sei auch nicht besonders reizvoll anzuschauen.
Die Dialoge im Roman lebten zwar durch eine gewisse Länge. Aber so gut, wie sie im Roman auch funktionierten, in seinem Film würden sie nicht gut funktionieren.
Clara hakt nach: Ihr sei aufgefallen, dass es im Roman sehr viel um Maiks Gedanken geht, die man im Film aber nicht so zeigen könne. Wie hat Fatih das Problem gelöst?
Fatih stimmt Clara zu. Ja, das sei ein besonderes Problem von Literaturverfilmungen. Wie bringt man die Gedankenwelt der Helden und Heldinnen auf die Leinwand? Am besten ohne Dialoge, sondern in Szenen, meint Fatih. Im besten Fall auch ohne Voiceover. Denn Voiceover sei kein filmisches Mittel.
Fatih wirft die Frage in den Raum: Was ist Film?
Er erklärt: Film besteht aus Einzelteilen, es ist wie ein Puzzle. Bei den Dreharbeiten werden einzelne Kameraeinstellungen gedreht. Im Schnitt werden diese Einstellungen zusammengebracht: Daraus entsteht eine Szene. Beispiel: Ein Zug kommt auf einen Menschen zu. Wenn nun einerseits das angstvolle Gesicht des Menschen und der näher kommende Zug frontal gefilmt und diese Bilder abwechselnd geschnitten werden, entsteht eine Szene, die keine Erzählstimme braucht, um verstanden zu werden. Er selbst möchte eine Erzählstimme möglichst immer vermeiden, da es dem visuellen Medium Film widerspricht.
Nun war aber der Roman ein so großer Literaturerfolg. Und dieser Erfolg hatte viel mit der Erzählstimme zu tun. Fatih erklärt, dass es kaum möglich gewesen wäre, die Art und Weise dieser Gedanken einzufangen, zum Beispiel Maiks Ironie. Deshalb habe er sich entschieden, ausnahmsweise ein klein wenig Voiceover einzusetzen.
Clara möchte wissen, was es noch für filmische Mittel gibt.
Fatih nennt zunächst den Einsatz der Kamera. So könnten mit Kameraeinstellungen Gefühle erzeugt werden. Zum Beispiel eine Zufahrt auf eine Person. Diese Hinbewegung erzeuge Druck auf die Protagonistin, zum Beispiel könne dadurch der Eindruck von Angst verstärkt werden.
Eine klassische Kameraeinstellung sei die Totale. Mit einer Totalen werde oft ein Raum etabliert (eingeführt): Er werde in Gänze gezeigt, damit der Zuschauer weiß, wo die Handlung spielt. Mit einer Totalen könne aber auch Einsamkeit erzählt werden: Die Protagonistin in weiter Ferne wirkt verlassen und allein.
Eine bekannte Kamerabewegung ist der Schwenk. Mit ihm könne ebenfalls ein Überblick über den Raum gegeben und die Aufmerksamkeit geleitet werden.
Ein weiteres Mittel, Gefühle beim Zuschauer zu erzeugen, ist der Ton. Habe die Karriere des Films noch als Stummfilm begonnen, sei bald Mono- und später Stereoton eingesetzt worden. Mittlerweile seien immer mehr Soundkanäle entwickelt worden, die das Kinoerlebnis intensiver machten und den Charakter des Films trügen.
Die heute verwendete Technik heiße Dolby Atmos und lasse den Kinobesucher tief in die Klangwelt des Films eintauchen.
Fatih erklärt, dass er Schnitt für das wichtigste filmische Mittel hält. Aber auch Musik gehöre dazu. Wenn zu einem Bild Musik erklingt, entstehe eine weitere Dimension. Zum Beispiel, weil Gänsehaut erzeugt wird. Musik kann uns auch zum Weinen bringen, sie beeinflusse, wie Bilder wahrgenommen werden.
Clara möchte wissen, was am Anfang eines Filmdrehs steht. Filmten Fatih und sein Team einfach drauf los?
Fatih erklärt, dass ein Filmprojekt immer mit einem Drehbuch beginnt. Ein Drehbuch ist eine Art Gebrauchsanleitung, wie man den Film zu drehen hat. Ein Drehbuch geht durch viele Hände, da es kein Einzelwerk sei. Bei einem Roman schreibe in der Regel nur ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin am Buch. Ganz anders beim Film. Man glaubt zwar immer, die Regisseurinnen oder Regisseure seien für alles verantwortlich. Aber nein: Sie seien nur so etwas wie ein Dompteur beim Zirkus, der sagt: „Jetzt die Löwen! Und jetzt die Affen!“ Aber er, Fatih, bräuchte ja die Löwen und die Affen. Und diese müssten auch vorher trainiert worden sein.
Deshalb beginnt alles damit, dass man die Geschichte einmal aufschreibt in eine Drehbuchform. Dieses Drehbuch gebe man dann den Geldgebern, denn Filme sind teuer, sie kosten oft mehrere Millionen. Die Geldgeber muss man also erst einmal überzeugen mit dem Drehbuch.
Im Drehbuch steht dann viel Text, zum Beispiel die Dialoge, die die Schauspieler lernen müssten. Am Set merkt der Regisseur dann vielleicht, dass das so nicht funktioniert, und schmeiße den Dialog wieder raus. Aber zunächst muss er trotzdem aufgeschrieben worden sein.
Clara hat gehört, dass Wolfgang Herrndorf ein großer Kinofan war. Deshalb hat er auch öfter Filme in seinen Büchern erwähnt, in „Tschick“ zum Beispiel unter anderem „Independence Day“. Mache Fatih das auch?
Fatih bejaht die Frage. Auch er mache das gerne, nämlich Querverweise zu zeigen. Er zückt sein Handy und zeigt Clara ein Bild von einem jungen Mann im Pool auf einer Luftmatratze. Clara fragt, ob dies Maik sei.
Fatih erklärt, dass dies Dustin Hoffman sei, in dem berühmten Film „Die Reifeprüfung“. Der Swimmingpool in „Tschick“ habe ihn nämlich sofort an die Reifeprüfung denken lassen. Da habe es sich angeboten, diese Szene zu sampeln – wie im Hip-Hop.
Fatih zeigt Clara ein weiteres Bild: ein Lastwagen auf einer wackeligen Holzbrücke. Clara erkennt es sofort wieder: Das sieht aus, wie die Szene im Braunkohletagebau, meint sie. Fatih lacht: Diese Szene stamme aus dem Film „The Sorcerer“, einer Neuverfilmung von „Lohn der Angst“. Das habe er sich abgeguckt. Diese Szene sei die Inspiration für die Szene in „Tschick“ gewesen. Eigentlich sei es im Roman eine ganz andere Art Brücke gewesen, aber sie hätten für die Dreharbeiten eine solche Brücke nicht gefunden. Also habe Fatih darum gebeten, dass man ihm eine Brücke wie in „The Sorcerer“ baut.
Voiceover
Eine Sprecherstimme erklärt Zusammenhänge. In Literaturverfilmungen spricht sie häufig den Romantext.
Filmische Mittel
Mit ihnen werden beim Zuschauer Stimmungen erzeugt.
Das können zunächst die Einstellungsgrößen bzw. der Bildausschnitt der Kamera sein.
Hier unterscheidet man zwischen:
Auch Kameraperspektiven erzielen verschiedene Wirkungen:
Auch Kamerabewegungen werden immer aus Gründen eingesetzt:
Aber auch andere Stilmittel erzeugen gezielte Wirkung:
Zeitlupe/Zeitraffer
Kameraschärfe (z. B. nur eine Person/einen Gegenstand in den Fokus nehmen/scharf abbilden)
Für alle, die sich für Film interessieren, empfiehlt „tschickucation“ als weiterführende Lektüre das Buch von James Monaco „Film verstehen: Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien“.